Gymnastizierung ist ein Begriff, der heutzutage in der Pferdewelt sehr oft Verwendung findet.
Doch was bedeutet er überhaupt?
Sicherlich wird man verschiedene Vorstellungen finden, wenn man diesen Begriff hinterfragt. So finden sich Methoden wie Ausbinder, Longierhilfen, Körperbänder, Handarbeit, Bodenarbeit, Equikinetik und sicherlich noch viele mehr.
Für mich stellt sich in Bezug auf die Auswahl der Methode immer die Frage: Was bringt es meinem Pferd? Bringt es meinem Pferd etwas, Ausbinder zu nutzen, die es in seiner Beweglichkeit einschränken und vielleicht sogar eher mit einem Abwehrverhalten einhergehen? Bringt es mir etwas, dadurch Muskulatur zu trainieren, die dem Pferd eher schadet als hilft? Möchte ich, dass ein bestimmtes Werkzeug meinem Pferd zeigt, wie es sich gesund bewegen kann oder bin ich der Meinung, dass die meisten Werkzeuge einfach nicht so genau arbeiten können wie ein gut geschulter Mensch..?
Ich bin definitiv eher die Person, die den Mensch als Halter und Trainer des Pferdes als Lösung in den Vordergrund stellt. Für mich gibt es kein Werkzeug, das ich dem Pferd umschnallen kann und das meinen Job übernimmt. Denn wenn man sich einmal eingehender mit der Biomechanik von Pferden auseinandersetzt wird man feststellen, dass diese sehr komplex ist.
Es kommt nicht darauf an, das Pferd in eine gewisse Position zu zwingen um es korrekt zu arbeiten. Das ist meiner Meinung nach sogar eher der ganz verkehrte Ansatz.
Es gibt so viele Einzelheiten auf die ich Rücksicht nehmen muss, wenn ich eine individuelle Lösung für ein bestimmtes Pferd erarbeiten möchte. Und jedes Pferd wird hierbei verschiedene Lösungsansätze brauchen.
Einen davon möchte ich für euch an einem meiner Pferde näher erläutern:
Hier seht ihr Sherlock, meinen mittlerweile 14-jährigen Quarter Horse Wallach.
Sherlock steht im Rechteckformat, ist überbaut, hat einen schwachen Rücken, Gallen im Bereich der Fessel- und Sprunggelenke und bei Überbelastung können die Fesselgelenke anschwellen.
Mittlerweile mache ich mit ihm nur noch Handarbeit und Freiarbeit, weil ich der Meinung bin, dass er so gesünder alt werden kann und hoffentlich mit der gymnastizierenden Arbeit, die ich mit ihm mache noch lange gesund (so gesund wie er eben sein kann) bleibt.
Ich habe mit ihm mit der Stellung und Biegung und den Seitengängen am Boden (und damals auch im Sattel) begonnen. Wichtig war mir dabei, ihm dies erst im Schritt zu vermitteln. Natürlich habe ich ihn auch mal im Trab und Galopp bewegt. Mir war eine gute Basis jedoch sehr wichtig für ihn, da er damals nur mit einem nach oben gestreckten (giraffenartigen) Hals und weggedrücktem Rücken Traben konnte. Dass er damals nicht gerade entspannt war hat mir die Sache nicht erleichtert. Darum habe ich auch viel Gelassenheitstraining mit ihm gemacht.
Über die Jahre haben wir uns vorgearbeitet zu den Seitengängen im Trab, auch im Galopp und haben dann angefangen mit der Piaffe. Die hat Sherlock wirklich dabei geholfen, das Konzept des „sich Setzens“ noch besser zu verstehen. Um mit der Hinterhand nur auf Höhe seines Widerrists zu kommen muss er sich in der Piaffe bereits deutlich setzen. Nach und nach konnte er dies immer besser umsetzen und baute eine bessere Muskulatur im Bereich der Hinterhand auf. Dennoch hatte er oft Schwierigkeiten, sich im Widerrist zu heben, was ein nicht unerheblicher Anteil in der Piaffe sein sollte. An energiereichen Tagen konnte er das manchmal leisten, es fiel im jedoch immer sehr schwer.

Die Piaffe ließ ich weiterhin in meine Arbeit einfließen, arbeitete aber auch noch mehr am Galopp. Unter anderem arbeitete ich daran, dass Sherlock am Boden versammelt aus dem Schritt angaloppierte, während ich rückwärts vor ihm ging. Auch das erwies sich als große Herausforderung, da Sherlock hier oft sehr aufgeregt wurde und ich wirklich gut einschätzen musste, an welchen Tagen ich diese Übung überhaupt abfragen konnte. Im Winter war daran häufig gar nicht zu denken, da sein Energielevel einfach zu hoch war.
Mit der Zeit wurde er jedoch auch in dieser Übung immer souveräner und gelassener. Dadurch baute er weiterhin Hinterhandmuskulatur auf und es gelang ihm langsam, auch im Widerrist höher zu kommen. Dadurch verbesserte sich seine Schultergürtel-, Rücken- und Bauchmuskulatur.
Wir fingen nach und nach an, mehr Versammlung im Galopp zu erreichen und konnten das Terre à Terre entwickeln. Zu Beginn konnte Sherlock dies nur wenige Sprünge halten. Mit der Zeit ging es jedoch immer länger. Über das Terre à Terre schafft ich es nach und nach (und wir reden hierbei über eine Zeitspanne von Jahren), dass er sich im Widerrist noch besser heben konnte.
Bei Sherlock musste ich immer ein wenig aufpassen, dass ich es nicht übertreibe. Wenn ich an einem Tag zu viele, zu stark versammelnde Übungen machte, bekam er am nächsten Tag oft verdickte Gelenke (vor allem das Fesselgelenk hinten war betroffen). Ich musste also lernen, sehr auf ihn und seinen Körper zu schauen und gab uns die Zeit dafür. Denn letzten Endes ist es doch egal wann das Pferd wie lang im Terre à Terre bleiben kann. Im besten Fall sollte sich diese Zeitspanne nach dem Pferd richten.
Wie dem auch sei, heute kann Sherlock sich im Terre à Terre, welches er manchmal auch in ein Mezair verwandelt, viel besser tragen und wirkt dabei noch stolzer und so gelassen! Danach brummelt er mich immer ausgiebig an, denn er weiß, dass er das toll gemacht hat und möchte natürlich seine Belohnung – die er auch bekommt!
Foto von www.connysknipskiste.de
Ich dachte, ich lasse euch einfach mal ein bisschen an unserem Weg teilhaben, vielleicht könnt ihr ja etwas für euch mitnehmen. Und vielleicht bringt das auch ein bisschen Realität ins Internet – denn all dies hat Jahre gedauert – nicht nur ein paar Monate oder Wochen.
Mich fragte einmal eine Kundin ob ich ihrem Pferd die Piaffe beibringen könnte, nachdem ich ihr ein Video von Sherlock in der Handarbeit gezeigt hatte. Ich scherzte: „Klar, in zwei Tagen kann er das.“ Ich war mir sicher, dass sie dies als Witz auffassen würde. Aber sie meinte: „Wirklich? Ja, das wäre ja super, dann fangen wir doch direkt an.“
Ich habe ihr dann mal ganz schnell erklärt, dass eine korrekte Piaffe definitiv mehr Zeit braucht und einiges an vorhergehender Grundlagenarbeit..schon spannend, wie unterschiedlich Einstellungen da doch sein können.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass Gymnastizierung jedem Pferd hilft. Es kommt meiner Meinung nach jedoch darauf an, wie gut man es schafft, auf das jeweilige Pferd einzugehen. Nicht jedes Pferd wird der perfekte Allrounder in allen Übungen werden – aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, dem Pferd zu helfen, mit den Voraussetzungen die das Pferd und man selbst mitbringt.
Nun gut, ich hoffe für euch ist etwas dabei und ich wünsche euch noch einen schönen Sonntag.
Eure Ann